Die Anthroposophische Medizin ist eine Heilkunst, die die Schulmedizin
mit einem geisteswissenschaftlichen Inhalt verbindet. Sie versteht sich
als Erweiterung der modernen, naturwissenschaftlich begründeten Medizin
und ihrer unverzichtbaren Grundlagen. Daher setzt sich die Anthroposophische
Medizin nicht in Gegensatz zur Schulmedizin. Sie ist keine Alternativmedizin,
sondern eine komplementäre Medizin.
Drei Elemente bekräftigen dieses Verhältnis
zur Schulmedizin:
Alle anthroposophischen Ärzte haben ein medizinisches Studium mit
Approbation absolviert. Vor jeder anthroposophischen Behandlung erfolgt
eine schulmedizinische Diagnose. Die Errungenschaften der naturwissenschaftlich
orientierten Medizin werden bei der Behandlung durch den anthroposophischen
Arzt eingesetzt. Die Anthroposophische Medizin widmet sich dem gesamten
Spektrum akuter und chronischer Erkrankungen. Sie schließt andere
Therapieverfahren nicht aus.
Der anthroposophische Arzt betrachtet den einzelnen Menschen umfassend.
Dies ermöglicht ihm eine ganzheitliche Behandlung des Patienten.
Die körperlichen, seelischen und geistigen Aspekte des Patienten
werden dabei gleichermaßen berücksichtigt, sowohl diagnostisch
als auch therapeutisch.
Krankheit entwickelt sich als Prozess und tritt als körperliche
oder seelische Störung oder Veränderung auf, wenn die Wechselbeziehungen
zwischen den verschiedenen Dimensionen des Menschen nicht mehr zusammen
harmonieren. Krankheit drückt einen verlorenen Ausgleich aus.
Sie wird nicht ausschließlich von außen verursacht, sondern
entsteht ebenfalls aus inneren Bedingungen. Sie ist damit auch als körperliches
Bild seelisch-geistiger Vorgänge zu verstehen und stellt keine rein
materielle Panne im Sinne einer Betriebsstörung dar.
Krankheit hat vor allem mit der Individualität eines Menschen zu
tun. Bestimmend sind also auch die individuellen Faktoren, die individuelle
Situation der erkrankten Menschen. Der pathologische Befund und das seelische
Erleben des Patienten werden in Zusammenhang mit der individuellen Biografie,
dem bisher geführten Leben und der Persönlichkeit des Patienten
gesehen. Die Anthroposophische Medizin ist eine Medizin der individuellen
Behandlung, eine Medizin der Einzelfälle, und damit eine patientenzentrierte
und patientengerechte Medizin.
Die Anthroposophische Medizin findet sich nicht damit ab, Einzelteile
eines Menschen, ein separat erkranktes Organ zu behandeln. Ihr Ziel besteht
vielmehr darin, dass der Patient mit Hilfe der anthroposophischen Therapien
ein neues inneres Gleichgewicht, seine individuelle Gesundheit wiedergewinnt
und selbst lernt, diese anhaltend zu stabilisieren. Dadurch erweist sich
die Anthroposophische Medizin zugleich als nachhaltige Medizin.
Die Anthroposophische Medizin ist nicht von einer persönlichen und
vertrauensvollen Beziehung zwischen Arzt und Patient zu trennen. In der
vertieften Beziehung Arzt-Patient liegt ein Zeichen ihrer Qualität.
Sie ist eine Begegnungs-Medizin. Der Anthroposophische Arzt setzt sich
zum Ziel, dem kranken Menschen würdig zu begegnen, seinen Heilbedarf
zu identifizieren und ein integriertes Bild vom ihm zu bekommen. Die dafür
notwendigen intensiven Gespräche setzen besondere Sozialkompetenzen
voraus.
Die Anthroposophische Medizin strebt nicht nur an, die Krankheitserscheinungen
zu beseitigen, sondern auch die Selbstheilungskräfte des Organismus
anzusprechen und zu stärken. Es handelt sich um Kräfte und Fähigkeiten,
über die wir verfügen und die uns alltäglich gesund halten.
Eine Grippe, von der man sich ohne Medikamente erholt sowie eine spontan
geheilte Verletzung zeigen, wie diese Ressourcen wirken.
Um die Krankheit auch von innen zu bekämpfen, unterstützen
die anthroposophischen Therapien die gesundheitsfördernden Ressourcen
beim erkrankten Menschen. Sie regen dieses Gesundungspotenzial zur Eigentätigkeit
an, damit es imstande ist, seine positive, schützende Arbeit zu leisten
und selbst die Symptome verschwinden zu lassen. Wo diese Selbstheilungskräfte
des Organismus nicht hinreichen, werden die bewährten schulmedizinischen
Methoden zur Behandlung des Körpers eingesetzt.
Die Anthroposophische Medizin lenkt also ihren Blick nicht nur auf die
Krankheiten und ihre Ursachen. Sie ergänzt diese pathogenetische
Perspektive durch die salutogenetische Perspektive, indem sie den Akzent
auf die Gesundheit, ihre Ursprünge und das Gesundungspotenzial der
Patienten setzt. Die Anthroposophische Medizin ist eine salutogene Medizin.
Die Anregung der Selbstheilungskräfte verleiht dem kranken Menschen
eine aktive Rolle in der Überwindung seiner Krankheit. Er ist kein
ausgeliefertes und hilfloses Objekt mehr, weil er an seinem Gesundungsprozess
beteiligt wird.
Die Anthroposophische Medizin ist nicht von der eigenen Mitwirkung der
Patienten zu trennen. Die anthroposophischen Arzneimittel und Heilmittel
(zum Beispiel Kunsttherapien und Heileurythmie) stärken die Selbstheilungskräfte
des Patienten. So befähigt die Anthroposophische Medizin den kranken
Menschen Hilfe zur Selbsthilfe zu entwickeln und ist in diesem Sinne eine
emanzipierende Medizin. Die anthroposophischen Arzneimittel entstehen
aus mineralischen, pflanzlichen und tierischen Substanzen, die nach besonderen
pharmazeutischen Verfahren verarbeitet werden. Die dabei eingesetzten
Pflanzen werden nach biologisch-dynamischer Methode angebaut.
Diese Arzneimittel sind als äußere Anwendungen in Form von
Wickeln, Einreibungen, Teil- und Vollbädern, rhythmischen Massagen
oder als innere Anwendungen in Form von Tabletten, Tropfen, Pulver und
Injektionen anzuwenden. Zur anthroposophischen Medizin zählen auch
eine Reihe nicht medikamentöser Heilverfahren: Die Anthroposophische
Heilmittel werden in Form von Kunsttherapie (Plastisch therapeutisches
Gestalten, Maltherapie, Musiktherapie, Therapeutische Sprachgestaltung),
Gesprächstherapie, Biografiearbeit und Heileurythmie angewendet.
Im Arzneimittelgesetz (1976) und im Sozialgesetzbuch V der BRD (1989)
ist die Anthroposophische Medizin als „besondere Therapierichtung“
(medizinische Richtung) wie die Homöopathie und die Phytotherapie
verankert.
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